uni.liNeuigkeitenDie Filter Bubble — Fluch oder Segen?
Feature

Die Filter Bubble — Fluch oder Segen?

Freiheit beginnt im Denken, doch sind unsere Gedanken noch frei? Eine Überlegung.

Text: Heike Esser
Illustration: Alina Sonea

Sonntagmorgen, eine frische Tasse Kaffee und endlich Zeit zum ausführlichen Zeitunglesen, um wieder einmal rundum informiert zu sein. Zuerst das lokale Blatt, dann die überregionale Sonntagszeitung. Etwas fällt auf: Die Nachrichten gleichen sich, wenn es um nationale oder besonders internationale Themen geht. Was zunächst nicht verwundert, schliesslich sind dieselben Ereignisse beschrieben. Aber sind auf der Welt nur so wenige Dinge passiert, dass alle Zeitungen die gleiche Auswahl treffen und diese häufig sogar mit dem gleichen Wortlaut beschreiben? Ein Blick auf das Kürzel hilft, ah ja, die Texte stammen von der gleichen Nachrichtenagentur. Also weiter mit Online-Zeitungen im Internet: die Liste der Artikel ist fast endlos, doch viele erscheinen vertraut – sie behandeln die gleichen Themen und stammen oft aus den bekannten Agenturen. Wars das also, ist das alles, was heute die Welt bewegt? Wieso interessieren sich plötzlich alle für das Thema X und was ist eigentlich mit den Geschichten, Berichten, Reportagen und Aufregern der letzten Wochen passiert? Ist in den Krisengebieten der letzten Monate plötzlich Frieden eingekehrt? Sind die Auswirkungen der Naturkatastrophen, an denen wir beinahe im Minutentakt voyeuristisch Anteil hatten, beseitigt? Und waren die Fidget spinner nur ein Sommerhype?

Wer will, findet im Internet Antworten auf diese und viele weitere Fragen, und wer intensiv und womöglich sogar auf fremdsprachigen Seiten unterwegs ist, begegnet auch Themen, die es nicht in die heimische Presse- und Medienwelt geschafft haben. Aber auch hier stellt sich die Frage, wer trifft die Auswahl der Nachrichten, die veröffentlicht werden? Geschieht diese zufällig, je nach Interesse der Redakteure oder weil jeder von jedem abschaut oder hat das Methode? Wenn die Aufmerksamkeit in eine Richtung gelenkt wird, was gerät dann aus dem Blickfeld? Führt die Gier nach immer neuen Nachrichten zu einer immer oberflächlicheren Betrachtung der Themen? Lässt uns die tägliche Informationsflut abstumpfen und ziehen wir uns deshalb in einen immer engeren Kreis zurück? Bereits zur Jahrtausendwende hat dieser Trend zum Rückzug einen Namen erhalten: Cocooning. Definiert wird Cocooning als «Zurückziehen in die eigenen vier Wände, den Trend hin zum Einigeln samt Home-Service. Wem die Welt draussen zu kompliziert, stressig und uninteressant geworden sei, der ziehe sich in seinen kleinen, überschaubaren Lebenskreis zurück wie in einen Kokon. Insgesamt kanalisiere ‹Cocooning› viele Trendströmungen: Es stehe für die schwindende Lust der Menschen, Neuland zu entdecken, ebenso für das Schrumpfen des eigenen Verantwortungshorizonts und für eine gewisse Gleichgültigkeit, die in der hoch individualisierten Gesellschaft um sich greift». ¹ Findet nun auch im Informationsbereich ein Cocooning statt, ein Rückzug in die private «Filter Bubble»?

«Wie kann man über etwas nachdenken, von dem man nichts weiss?» 

Freiheit beginnt im Denken, doch sind unsere Gedanken noch frei? Das Internet vergisst nichts und schaut uns bei jeder Suchanfrage über die Schulter. Es registriert, wofür wir Likes verteilen, welche Themen wir regelmässig anklicken, was uns interessiert. Was zunächst praktisch erscheint, denn so erhalten wir aus der ungeheuren Masse an potenziell möglichen Informationen vermehrt Nachrichten zu Themen, die uns interessieren. Je häufiger wir auf diese Angebote eingehen, umso mehr ähnliche Inhalte erscheinen in den eigenen «News». Wer schon mal auf Facebook ein paar Likes verteilt hat oder auf Google mit ähnlichen Begriffen nach etwas gesucht hat, weiss, diese Information in die Tiefe geht auf Kosten der Informationsbreite. Man bekommt immer mehr zum immer Gleichen angeboten. Doch vielleicht wäre jetzt ein anderes Thema viel überlegenswerter? Aber wie kann man über etwas nachdenken, von dem man nichts weiss? Um auf neue Gedanken zu kommen, hilft es manchmal, sich durch das Internet treiben zu lassen, von Hölzchen zu Stöckchen, vom Hundertsten ins Tausendste, bis man plötzlich an einem Satz hängenbleibt. Dann beginnt das Spiel von vorne, man kann sich durch aktuelle Artikel und Links lesen und findet in Online-Archiven viel Wissenswertes.

Aber was passiert mit dem Wissen, das nicht in digitalisierter Form vorliegt, sondern in Bibliotheken, in Archiven und deren Katalogen steht? Ältere Werke, die nur auf Anforderung aus den Aussenlagern und Tiefenspeichern hervorgeholt werden. Studien weisen darauf hin, dass analoges Wissen immer weniger Leser findet. Werden diese niedergeschriebenen Überlegungen nur noch im Rahmen von Forschungsprojekten aus ihrem Dornröschenschlaf geweckt? Und hat dieses langsame Vergessen Folgen für unsere zukünftigen Gedanken? Bräuchten wir dieses alte Gedankengut, um auf neue Gedanken zu kommen? Was passiert in unseren Köpfen, wenn wir sie mit schnellem Wissen aus Google und Co füttern und uns damit zufrieden geben? Verlieren wir den Blick über die digitalen Grenzen hinaus oder hilft uns der Rückzug in die Filter Bubble, in der Informationsflut nicht zu ertrinken, sondern in dem so gewonnenen Freiraum und seiner Ruhe neue Gedanken zu fassen und Ideen zu entwickeln?

¹ Trendforschung «Cocooning» ( Bayrischer Rundfunk, Memento vom 27. Mai 2011 im Internet Archive )

 

*Dieser Beitrag erschien ursprünglich in der November 2017 Ausgabe des Denkraum Magazins.