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Verführungstaktik

Der Geschmack als individuelles und kulturelles Fingerspitzengefühl entwickelt sich immer stärker zum unnachahmlichen wirtschaftlichen Erfolgsfaktor.

von PD Monika Kritzmöller

Das ist doch nur Geschmacksache!» Der Geschmack kommt gerne als «das» Aus-Kriterium zum Einsatz, um unliebsame Diskussionen über «schön» oder «hasslich» mit einem Handstreich zu beenden. Ein Nur-Phänomen, die Praline zum Dessert, die entbehrlich ist, sobald es um ernsthaftere Dinge geht und «gespart» werden soll – ob Kalorien oder Geld. Umgekehrt bringt der Geschmack nicht nur Höhenflüge auf die Gaumenrezeptoren und die Augen vor Begeisterung zum Glänzen, er ist auch ein gleichermassen zentraler wie verkannter Wettbewerbsfaktor.

Dem Geschmack ist es geschuldet, wenn Kultprodukte entworfen werden. Die mit der legendären Kelly-Bag als Sinnbild erlesenen Designs getätigten Umsätze dürften für den Hersteller Hermès (wie auch leider dessen Kopisten) ins Unermessliche gehen, ganz zu schweigen vom Imagefaktor, der mit keinem noch so hohen PR-Etat aufzuwiegen wäre.

Mitteleuropa als Wiege des international anerkannten und führenden Designs

Nahe am Geschmack angesiedelt ist der Stil als unverwechselbares Feingefühl, in einer Situation das Richtige zu wählen – Worte, Gesten, Kleidung ebenso wie Produkte oder werbliche Darstellungen eines Unternehmens. Der Soziologe Georg Simmel kontrastierte pointiert das «Stil sein» – als Urheber einer ganz bestimmten Handschrift in Kunst oder Gestaltung – vom «Stil haben» all derer, die diese Handschrift imitieren, in der (vergeblichen) Hoffnung, «auch so» zu sein wie ihr Ideal. Was im Privaten nicht selten für Erheiterung sorgt, lässt sich auch an den Produkten unterschiedlicher Volkswirtschaften beobachten. Nach wie vor gilt Mitteleuropa als Wiege des international anerkannten und führenden Designs. Automobile aus deutscher Federführung werden fleissig in asiatischen Fahrzeugschmieden kopiert und zu deutlich niedrigeren Preisen massenhaft verkauft. Auch diese Autos fahren, Ikonen und Aushängeschilder werden sie jedoch schwerlich werden – wie etwa die BMW 8er-Serie aus den 1990er Jahren, die bereits heute in Datenbanken registriert und von Liebhabern gesammelt wird. Charles und Ray Eames setzten sich mit ihren Stühlen ein Denkmal, und Eileen Grays Frisiertischchen verbucht nach annähernd einem Jahrhundert ebensolche formale Gültigkeit wie Le Corbusiers Väter aller kubischen Sessel.

Geschmack – mit Können und Stilsicherheit eingesetzt – ist ein weitaus unverwechselbareres Profilierungsmerkmal als Mengen- oder Preisführerschaft.

Voraussetzung für Mitteleuropas Jahrhunderte alte Geschmackskultur ist die ebenso lange Kultur der Freiheit und der Selbstbestimmung: Freiheit, wählen und entscheiden zu können. Etwas so oder anders zu gestalten. Zu bewerten, welcher Weg die gestellte Aufgabe in Funktion und Ausdruck am besten repräsentiert. Diese Geschmacks-DNA entsteht nur dann, wenn sich die genannten Bedingungen (anders als etwa in diktatorischen Gesellschaften) über Generationen hinweg entfalten durften. Dem entsprechend lässt sich eine derart entwickelte Geschmacksführerschaft nicht binnen weniger Jahre erlernen wie eine technische Fertigkeit, sondern bleibt, in Dimensionen eines Menschenlebens gedacht, unnachahmlich.

Während bei hart umkämpften Märkten und – in der Schweiz – als beängstigend empfundener Währungsstarke vielfach der Sisyphus-Versuch unternommen wird, in das Rennen der Preiskonkurrenz einzusteigen, und Forschungsgelder primär in «sinnvolle», weil ernsthaft-seriöse technologische Entwicklungen investiert werden, rückt der Geschmack in die marginalisierend feminisierte Ecke des «Nice-to-have». Jedoch verdeutlichte bereits der Soziologe Pierre Bourdieu in seinen Ausführungen zu den «feinen Unterschieden», wie grundlegend die gesellschaftliche Urteilskraft nicht nur über Sympathie und Antipathie entscheidet, sondern auch darüber, wer welche Produkte mit Erfolg an seine zuvor definierte Zielgruppe vermarktet.

Das subtile Differenzierungskriterium

Geschmack entwickelt sich gerade in Gesellschaften, die mit Überfluss - statt Knappheitsphänomenen konfrontiert sind, zu einem der subtilsten und zugleich allgegenwärtigsten Differenzierungskriterien. Dies gilt sowohl im Alltag, als auch bei der Selektion von Gütern und Dienstleistungen. Feinste Details entscheiden, ob ein Outfit als stimmig empfunden wird. Der vielleicht gar nicht bewusste Griff des Materials stellt die Weichen, ob der neu erstandene Anzug sein kümmerliches Dasein in der letzten Ecke des Kleiderschrankes fristen – oder mit seiner schmeichelnden Haptik nicht nur den Träger selbst betören wird. Bevor allerdings Hand angelegt wird an die Produkte, gilt es visuell eine Idee ihres Inhalts zu erwecken. Auch das Bild entfaltet seine Tücken, sagt es zwar mehr als tausend Worte, dies jedoch ohne eine so verbindliche Grammatik wie die verbale Sprache.

Mit dieser Entwicklung rückte ein schein- bar unmessbares, de facto nicht quantifizierba- res Kriterium ins Zentrum unternehmerischer Erfordernisse: Der Geschmack. Die gezielte Nutzung des Geschmacks als nicht zu imitie- rendem Kultur- und Wettbewerbsfaktor bedarf deshalb einer fundierten Vorgehensweise, um Ausstrahlung und Botschaft zielgerichtet in Produkte, Dienstleistungen und Kommunikati- on zu implementieren. Wenn wissenschaftliche Methoden bei der Entwicklung von Formen- und Bildsprache angewandt werden, weicht die scheinbare Beliebigkeit einer Botschaft mit Substanz und Charakter.

Verführung bringt eben auch im Wirtschaftsleben erfolgreich ans Ziel!

 

Zur Person
PD Dr. Monika Kritzmöller entwickelt in ihrem Forschungs- und Beratungsinstitut «Trends + Positionen» Konzepte zur Profilbildung für Anbieter von (Luxus-) Produkten und anspruchsvollen Dienstleistungen insbesondere in den Branchen Textil, Mode und Architektur. Zum Einsatz kommen dabei eigene Forschungsergebnisse zu Ästhetik und Lebensstilen. Zudem unterrichtet sie Soziologie an den Universitaten St. Gallen und Liechtenstein.

* Dieser Artikel erschien ursprünglich in der November 2016 Ausgabe des Wissensmagazins Denkraum.